Monday, July 03, 2006

Das Rosenmädchen


Eine Waldfrau hatte einen armen Waisenjungen, der sich verirrt hatte, mitleidig in ihr Haus genommen und pflegte ihn wie eine rechte Mutter. Als er groß war, sagte er eines Tages: „Mutter, ich muss fort, ich will das Rosenmädchen suchen!" — „Das ist weit, mein Sohn, und wenn du auch dahin gelangen solltest, so wirst du es dennoch schwer erwerben, denn es wird von einem Drachen bewacht!" Der Knabe ließ sich aber nicht länger halten; da gab ihm seine Mutter eine Schelle und sprach: „Wenn du etwas wünschest, so läute damit!" Nun ging er lange, lange fort und kam nur einmal zu einem großen Bienenschwarm und fragte die Bienenmutter, ob sie nicht wisse, wo das Rosenmädchen wohne. Das wisse sie nicht, sagte sie, aber sie könne es bald erfahren; und damit schickte sie alle Bienen aus, um Kundschaft einzuziehen. Sie kamen zurück und wussten keine Nachricht. Da zählte sie die Bienenmutter, und es fehlte eine. Endlich kam auch die; sie war auf dem Wege lahm geworden und brachte erwünschte Botschaft, denn sie war gerade bei dem Rosenmädchen gewesen. Da musste diese dem Knaben den Weg zeigen. Sie führte ihn über eine große, große Wiese, und sie kamen dann an einen Wald. Am Ende des Waldes wohnte das Rosenmädchen in einem großen Schloss. Der Knabe verdingte sich nun da als Gänsejunge und weidete immer in der Nähe des Gartens. Hier sah er das Rosenmädchen jeden Tag, wie es unter den Blumen wandelte, und es war sehr schön.

Da hörte er, das Rosenmädchen fahre jeden Abend in die Stadt zum Ball. Als es Abend wurde, nahm er seine Schelle und läutete. Da stand vor ihm ein kupfernes Ross bereit, und daneben lag ein kupferner Mantel; sogleich legte er den Mantel um, setzte sich auf und zog in die Stadt. Auf dem Balle ging er stets mit dem Rosenmädchen, und das hatte seine Freude an dem schönen Jungen. Noch ehe der Ball aus war, machte er sich heimlich fort, setzte sich auf sein Ross und ritt heim.

Das Rosenmädchen erzählte seiner Mutter von dem schönen Jungen im kupfernen Mantel; dieser aber hütete schon wieder als armer Hirtenknabe die Gänse und blickte nur verstohlen in den Blumengarten. Den folgenden Abend zog das Rosenmädchen wieder zum Ball; der Hirtenjunge schellte abermals, und ein silbernes Ross stand gleich bereit, und ein silberner Mantel lag daneben. Er warf den Mantel um und zog in die Stadt auf den Ball; hier sprach er wieder die ganze Zeit mit dem Rosenmädchen, und das hatte seine Freude daran. Noch ehe der Ball aus war, eilte er hinaus, setzte sich auf sein Ross und flog fort. Am folgenden Morgen erzählte das Rosenmädchen abermals seiner Mutter von dem schönen Jungen, wie er jetzt mit einem silbernen Mantel bekleidet gewesen. Dieser aber hütete wieder die Gänse und blickte verstohlen in den Blumengarten. Die Mutter war begierig, den schönen Jungen kennen zu lernen, und fragte ihre Tochter, ob sie ihn denn nicht gezeichnet hätte. Das Rosenmädchen sagte: „Nein!" — „So nimm denn zum Nächstenmahl ein wenig Pech mit, und wenn er mit dir tanzt, so wickle es ihm ins Haar." Am Abend fuhr das Rosenmädchen wieder auf den Ball und nahm Pech mit. Der Hirtenjunge holte seine Schelle hervor und läutete. Da stand ein goldnes Pferd bereit, und ein goldner Mantel lag daneben. Er hüllte sich schnell in den Mantel, schwang sich aufs Ross und war bald in der Stadt. Auf dem Ball ging er gleich wieder zum Rosenmädchen und tanzte mit ihm; da wickelte es ihm ein wenig Pech ins Haar.

Als der Ball zu Ende ging, eilte er hinaus, schwang sich auf sein Ross und war bald daheim. Am Morgen erzählte das Rosenmädchen wieder seiner Mutter von dem schönen Jungen, wie er jetzt in einen goldnen Mantel gehüllt gewesen und wie sie ihm während des Tanzes Pech ins Haar gewickelt habe. Der Gänsejunge sah wieder verstohlen durch die Gartenhecke. Wie er aber gegen Mittag nach Hause kam, sah das Mädchen ihn lange an und merkte, dass das Haar verstrauft war. „Du bist unser Retter!" rief sie endlich voll Freude. „Das will ich gerne sein!" rief der Junge. Die Mutter sprach:

„Auf denn, dass wir entfliehen, noch schläft der Drache; erwacht er aber bald, so sind wir verloren!" Da ging der Hirtenjunge hinaus und schellte dreimal: sogleich stand das kupferne, silberne und goldne Pferd bereit. Das Rosenmädchen setzte er auf das goldne und legte ihr den goldnen Mantel um, die Mutter auf das silberne und gab ihr den silbernen Mantel; er schwang sich auf das kupferne und hüllte sich in den kupfernen Mantel, und jetzt sprengten sie zusammen fort. Im Schlosse aber lag ein mächtiges Fass mit drei eisernen Reifen. Darin schlief der Drache seinen Jahresschlaf. Der war gerade zu Ende. Nur einmal sprang ein Reif, bald sprangen der zweite und der dritte und krachte jedes Mal so gewaltig wie ein Donnerschlag. Jetzt rieb sich der Drache die Augen und sah um sich. „Wo ist mein Rosenmädchen?" Aber es antwortete niemand. Da sprang er auf und sah in allen Zimmern nach und im Garten, und es war niemand da; nun eilte er in den Stall, nahm seinen Fohlenhengst, schwang sich auf denselben und sprach: „Nun trage mich flugs zum Räuber hin!" Es dauerte nicht lange, so hatte er die Fliehenden erreicht. Sie waren gleich wie auf der Stelle gebannt und konnten nicht weiter. Da sprach der Drache: „Ich könnte dich, du kleiner Erdenwurm, zerschmettern, allein das brächte mir wenig Ruhm!" Da nahm er dem Knaben die Schelle, die drei Rosse, das goldne und silberne mit dem Rosenmädchen und seiner Mutter und zog zurück. Noch sah er einmal zurück und höhnte den Knaben: „Du könntest das Rosenmädchen wohl erlösen, wenn du ein Ross, wie ich, von meiner Mutter bekämest; allein das wird nie und nimmer geschehen!" Damit zog er heim und legte sich wieder in sein Fass zum Jahresschlaf, und die eisernen Ringe legten sich von selbst darum.

Das Rosenmädchen und seine Mutter waren nun wieder einsam; es pflegte am Tage die Blumen, und abends zog es nicht mehr auf den Ball, sondern dachte immer an seinen Retter. Der Knabe aber ging immerfort und suchte die Mutter des Drachen. Da sah er einen Raben, der hatte sich in ein Netz verstrickt; der bat den Knaben, er möge ihm heraushelfen, er werde ihm's einmal vergelten. Der Knabe machte ihn frei, und der Vogel flog fort. Wie er weiter kam, sah ihn ein Fuchs, der steckte in einer Falle und konnte nicht fortkommen. „Hilf mir!" sprach dieser, „ich will dir's vergelten!" Der Junge machte ihn frei, und der Fuchs lief in den Wald. Da kam der Knabe zum Meeresufer, und hier zappelte ein großer Fisch auf dem Trocknen. „Setze mich ins Wasser! ich will dir's vergelten!" Der Knabe tat es, und bald sah er ein Häuschen im Wald; hier wohnte die Mutter des Drachen. Er ging hinein und fragte, ob sie ihn in den Dienst nehmen wolle. „Ei, jawohl, du sollst mir meine Stute hüten! Was soll ich dir geben aufs Jahr" sprach die Alte. „Nur ein Füllen!" sagte der Knabe. „Es sei!" erwiderte die Alte, „bringst du mir aber abends die Stute einmal nicht heim, so ist es mit deinem Leben am Ende." Die Hexe hatte schon viele in den Dienst genommen und hatte alle umgebracht. Da zog am Morgen der Knabe mit der Stute aufs Feld; bald aber war sie aus seinen Augen, und er suchte sie bis gegen Abend und konnte sie nicht finden. Da sah er den Vogel und sprach: „Hilf mir, wenn du kannst", und erzählte ihm, was ihn bekümmere. Da sagte der Rabe gleich: „Die Stute ist in den Wolken und hat gefüllent, komm, setze dich auf meinen Hals, ich führe dich hin!" Das tat er denn und brachte so die Stute und das Füllen nach Hause, und die Alte verwunderte sich. Am folgenden Morgen, wie er sie hinaustrieb, ging es ihm wieder so; die Stute war mit dem Füllen auf einmal verschwunden, und er suchte sie bis gegen Abend und konnte sie nicht finden. Da traf er den Fuchs und klagte ihm seine Not. Der Fuchs sprach gleich:

„Sie ist in der Berghöhle und hat da gefüllent, komm, setze dich auf meinen Schwanz, ich will dich hinführen!" Das tat er, und nun kam er durch ein Fuchsloch in die Höhle und trieb die Stute und die zwei Füllen nach Hause. Die Hexe machte wieder große Augen. Am dritten Tage, wie er die Stute und die zwei Füllen austrieb, waren sie gleich wieder vor seinen Augen verschwunden; er suchte sie bis gegen den Abend und fand sie nicht. Da kam er auch ans Meer und sah betrübt ins Wasser. Nur einmal kam der große Fisch herauf geschwommen und fragte ihn, warum er so traurig sei, und der Knabe erzählte seine Not. „Sie ist auf dem Meeresgrunde und hat da gefüllent; ich will dich aber gleich hinführen!" Da nahm ihn der Fisch in seinen Mund und führte ihn hinab, und so trieb er die Stute und die drei Füllen nach Hause. Die Alte verwunderte sich und wusste nicht, wie das zuginge. Sie konnte nun die Stute und die Füllen nirgends mehr verbergen, und so weidete sie der Knabe auf dem Felde, bis das Jahr um war. Da sagte sie:

„Jetzt wähle dir ein Füllen!" und er nahm sich das älteste; das war eine schöne Stute geworden. Darauf ritt er hin, um das Rosenmädchen zu befreien. Kaum war er in der Nähe, so fing seine Stute an zu wiehern. Das hörte der Fohlenhengst des Drachen im Stall und fing auch an zu wiehern und zu stampfen, dass alles erbebte. Darüber erwachte der Drache im Fasse, denn es war auch das Jahr gerade zu Ende. Die drei Reifen sprangen mit großem Knall nacheinander ab; er hörte das Wiehern, sprang auf und lief in den Stall. Aber der Fohlenhengst hatte sich schon losgerissen und wollte zur Stute laufen. Da fasste ihn der Drache an den Mähnen und schwang sich auf seinen Rücken und wollte ihn bändigen; der aber bäumte sich gewaltig; der Drache stürzte herunter, und nun zerstampfte ihn der wilde Hengst unter seinen Füßen, dass er gleich tot war. Dann sprengte er über die Schlossmauer und lief der Stute nach. Als aber der Knabe am Schlosse angelangt war, sprang er gleich ab und stieg über die Gartenhecke hinüber und grüßte und empfing das Rosenmädchen. Seine Stute war gleich umgekehrt und lief zur Alten zurück und der Fohlenhengst hinter ihr her und konnte sie nicht erreichen, bis sie bei der alten Stute und den beiden andern Füllen war. Der Knabe war nun Herr vom Schloss und hatte auch seine Schelle und die drei Wunderrosse wieder.

Darauf hielt er Hochzeit mit dem Rosenmädchen und lebte herrlich und in Freuden.

Tuesday, June 20, 2006

Oscar Wilde (1854-1900) Die Nachtigall und die Rose


"Sie würde mit mir tanzen, hat sie gesagt, wenn ich ihr rote Rosen brächte!" rief der junge Student.
"Aber in meinem Garten ist keine rote Rose."
Die Nachtigall hörte ihn aus ihrem Neste in der Steineiche
und sie guckte durch die Blätter und wunderte sich.
"Es gibt keine einzige rote Rose in meinem ganzen Garten!"
rief er aus und seine schönen Augen füllten sich mit Tränen.
"Ach, von welchen kleinen Dingen hängt das Glück zuweilen ab.
Ich habe alles gelesen, was die weisen Männer geschrieben haben,
alle Geheimnisse der Philosophie sind mir offenbar,
und weil ich keine rote Rose habe, ist mein Leben verpfuscht."

"Da ist endlich ein treuer Liebhaber", sagte die Nachtigall.
"Jede Nacht habe ich von ihm gesungen, obzwar ich ihn nicht kannte.
Nacht für Nacht habe ich seine Geschichte den Sternen erzählt
und nun sehe ich ihn von Angesicht.
Sein Haar ist dunkel wie die blühende Hyazinthe
und seine Lippen sind rot wie die Rose seiner Wünsche.
Aber Leidenschaft gab seinem Gesicht die Farbe des bleichen Elfenbeins
und die Sorge setzte die Siegel auf seine Brauen."
"Der Prinz gibt morgen Abend einen Ball", murmelte der junge Student,
"und die, die ich liebe, wird dort sein.
Wenn ich ihr eine rote Rose bringe, wird sie mit mir tanzen,
bis der Morgen anbricht.
Wenn ich ihr eine rote Rose bringe,
werde ich sie in meinen Armen halten
und ihre Hand wird in meiner Hand liegen.
Aber es gibt keine rote Rose in meinem Garten
und so werde ich einsam dasitzen und sie wird an mir vorübergehen.
Sie wird sich um mich nicht kümmern und mein Herz wird brechen."
"Das ist wirklich ein treuer Liebhaber", sagte die Nachtigall.
"Was ich besinge, leidet er.
Was Freude für mich ist, ist Schmerz für ihn. Liebe ist wirklich eine wundervolle Sache.
Liebe ist kostbarer als Smaragd und wertvoller als der feinste Opal.
Man kann sie nicht kaufen um Perlen und Granatäpfel
und sie ist auf dem Markte nicht zu haben.
Sie ist den Händlern nicht feil
und sie kann auf der Goldwaage nicht gewogen werden."
"Die Musiker werden in der Galerie sitzen", sagte der Student,
"und sie werden die Saiten ihrer Instrumente streichen und die,
die ich liebe,
wird tanzen zum Ton der Harfen und Violinen.
Sie wird so leicht tanzen, dass ihre Füße nicht den Boden berühren werden,
und die Hofleute in den bunten Kleidern werden sich um sie drängen.
Aber mit mir wird sie nicht tanzen,
denn ich habe keine rote Rose um sie ihr zu geben",
und er warf sich ins Gras und vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte.

"Warum weint er denn?" fragte ein kleines Eidechslein,
das mit dem Schwänzlein in der Luft vorüber rannte.
"Warum weint er denn?" sagte ein Schmetterling,
der hinter einem Sonnenstrahl einhertanzte.
"Warum weint er denn?" flüsterte ein Gänseblümchen zu seinem Nachbarn mit seiner weichen, tiefen Stimme.
"Er weint um eine rote Rose!" sagte die Nachtigall.
"Um eine rote Rose?" riefen alle, "wie lächerlich!"
Und die kleine Eidechse, die ein bisschen zynisch angelegt war,
platzte mit Lachen heraus.
Aber die Nachtigall verstand den geheimnisvollen Kummer
des armen Jungen
und sie saß schweigend in ihrem Baum
und dachte über das Geheimnis der Liebe nach.
Plötzlich breitete sie ihre braunen Flügel zum Fluge und erhob sich in die Luft.
Sie flog wie ein Schatten durch den Hain und segelte wie ein Schatten durch den Garten.
In der Mitte des Grasplatzes stand ein schöner Rosenbaum,
und als sie ihn erblickte, flog sie darauf zu und setzte sich auf ein Zweiglein.
"Gib mir eine rote Rose," sagte sie, "
und ich will dir mein süßestes Lied singen."
Aber der Baum schüttelte den Kopf.
"Meine Rosen sind weiß, so weiß wie der Schaum des Meeres
und weißer als der Schnee auf den Bergen
. Aber geh zu meinem Bruder, der um die alte Sonnenuhr wächst,
vielleicht wird er dir geben, was du wünschest."
So flog denn die Nachtigall zum Rosenstrauch,
der um die alte Sonnenuhr rankte.
"Gib mir eine rote Rose," sagte sie, "und ich will dir mein süßestes Lied singen."
Aber der Strauch schüttelte den Kopf.
"Meine Rosen sind gelb," antwortete er,
"so gelb wie das Haar der Meermädchen, die auf einem Bernsteinthron sitzen, und gelber als die Narzissen,
die auf den Wiesen blühen, bevor der Schnitter kommt mit seiner Sense.
Aber geh zu meinem Bruder, der unter dem Fenster des Studenten steht,
vielleicht wird er dir geben, was du wünschest."

So flog die Nachtigall zum Rosenstrauch,
der unter dem Fenster des Studenten wuchs.
"Gib mir eine rote Rose," sagte sie,
"und ich werde dir singen mein süßestes Lied."
Aber der Strauch schüttelte den Kopf.
"Meine Rosen sind rot," sagte er,
"so rot, wie die Füße der Taube und röter als die korallnen Fächer,
die die Meerflut in tiefer Höhle auf- und niederbewegt.
Aber der Winter hat meine Adern erstarrt
und der Frost hat meine Knospen geknickt
und der Sturm hat meine Zweige gebrochen
und so werde ich dieses Jahr keine Rosen mehr tragen."
"Eine rote Rose ist alles, was ich haben will," sagte die Nachtigall.
"Eine einzige rote Rose. Gibt es denn keinen Weg, sie mir zu schaffen?"

"Es gibt einen Weg," antwortete der Rosenstrauch,
"aber er ist so schrecklich, dass ich kaum wage, ihn dir zu sagen."
"Sag ihn mir nur," sagte die Nachtigall, "ich fürchte mich nicht."
"Wenn du eine rote Rose haben willst," sagte der Strauch,
"so forme sie aus Tönen im Licht des Mondes
und färbe sie mit deinem eigenen Herzblut.
Du musst mir dein Lied singen, indes ein Dorn sich in deine Brust drückt.
Die ganze Nacht musst du singen für mich
und der Dorn muss dein Herz durchbohren.
Und dein Lebensblut muss durch meine Adern fließen und mein werden."

"Sterben ist ein großer Preis für eine rote Rose“, rief die Nachtigall,
"und das Leben ist allen teuer.
Es ist so schön, im grünen Walde zu sitzen und zu sehen,
wie die Sonne im goldenen Wagen herauffährt
und wie der Mond kommt mit seiner Perlenkutsche.
Süß sind die Glockenblumen, die im Tale versteckt sind, und das Heidekraut, das auf dem Hügel blüht.
Aber Liebe ist mehr als Leben,
und was ist das Herz eines Vogels im Vergleich
mit dem Herzen eines Menschen!"
Und so breitete sie die braunen Flügel zum Fluge aus
und erhob sich in die Luft.
Sie flog wie ein Schatten durch den Garten
und segelte wie ein Schatten durch den Hain.
Der junge Student lag noch immer im Grase, wo sie ihn verlassen hatte
und die Tränen waren in seinen schönen Augen noch nicht getrocknet.

"Werde glücklich, „ rief die Nachtigall, "du sollst deine rote Rose haben.
Ich will sie formen aus Tönen im Licht des Mondes und mit meinem eigenen Herzblut will ich sie färben.
Alles, was ich von dir verlange, ist, dass du ein treuer Liebhaber werdest,
denn die Liebe ist weiser als Philosophie,
so weise diese sein mag, und mächtiger als Kraft,
so mächtig diese sein mag. Flammenfarbig sind ihre Flügel
und von der Farbe der Flamme ist ihr Leib.
Ihre Lippen sind süß wie Honig und ihr Atem ist gleich Weihrauch."
Der Student blickte auf und hörte zu, aber er konnte nicht verstehen,
was die Nachtigall ihm sagte,
denn er wusste nur die Dinge, die in den Büchern geschrieben stehen.

Aber der Eichbaum verstand jedes Wort und wurde sehr traurig,
denn er liebte die kleine Nachtigall,
die ihr Nest in seinen Zweigen gebaut hatte.
"Sing mir noch ein letztes Lied“, wisperte er.
"Ich werde sehr einsam sein, wenn du fort bist."
So sang denn die Nachtigall dem Eichbaum,
und ihre Stimme war dem Wasser gleich, das aus dem Felsenquell sprudelt.

Als sie ihr Lied geendet hatte, stand der Student auf
und zog ein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche.
"Sie hat Technik“, sagte er zu sich selbst, als er aus dem Haine schritt,
"das ist unleugbar; aber hat sie auch Gefühl?
Ich glaube kaum. Sie gleicht den meisten Künstlern: alles ist Stil,
nichts innerliches Gefühl.
Sie möchte sich für andere nicht aufopfern.
Sie denkt ausschließlich an ihre Musik und jedermann weiß,
dass die Künste egoistisch sind.
Aber man muss zugeben, dass sie einige schöne Töne in der Kehle hat.
Jammerschade, dass sie keinen tieferen Sinn haben
und praktisch nichts bedeuten!"
Und er ging in sein Zimmer und legte sich auf sein Bett
und begann über seine Liebe nachzudenken;
und nach kurzer Zeit schlief er ein.

Und als der Mond am Himmel stand, flog die Nachtigall zum Rosenstrauch und drückte ihre Brust gegen den Dorn.
Die ganze Nacht sang sie, die Brust gegen den Dorn gepresst,
und der kalte kristallene Mond neigte sich herab und lauschte.
Die ganze Nacht sang sie, und der Dorn drang tiefer und tiefer in ihre Brust,
und ihr Lebensblut sickerte weg von ihr.

Zuerst sang sie von dem Werden der Liebe
in dem Herzen eines Knaben und eines Mädchens.
Und an der Spitze des Rosenstrauchs erblühte eine herrliche Rose,
Blatt reite sich an Blatt wie Lied auf Lied.
Erst war sie bleich wie der Nebel, der über dem Fluss hängt,
bleich wie die Füße des Morgens und silbern wie die Flügel des Dämmers.
Wie das Schattenbild einer Rose in einem Silberspiegel,
wie das Schattenbild einer Rose im Teiche,
so war die Rose, die aufblühte an der Spitze des Rosenstocks.

Der aber rief der Nachtigall zu,
dass sie sich fester noch gegen den Dorn presse.
"Drück fester, kleine Nachtigall", rief er, "sonst bricht der Tag an,
bevor die Rose vollendet ist."

Und so drückte die Nachtigall sich fester gegen den Dorn,
und lauter und lauter wurde ihr Lied,
denn sie sang nun von dem Erwachen der Leidenschaft
in der Seele von Mann und Frau.

Und ein zartes Rot kam auf die Blätter der Rose,
wie das Erröten auf das Antlitz des Bräutigams,
wenn er die Lippen seiner Braut küsst.
Aber der Dorn hatte ihr Herz noch nicht getroffen,
und so blieb das Herz der Rose weiß,
denn bloß einer Nachtigall Herzblut kann das Herz einer Rose färben.
Und der Strauch rief der Nachtigall zu, dass sie sich fester noch gegen den Dorn drücke.
"Drück fester, kleine Nachtigall", rief er,
"sonst ist es Tag, bevor die Rose vollendet ist."

Und so drückte die Nachtigall sich fester gegen den Dorn,
und der Dorn berührte ihr Herz,
und ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Bitter,
bitter war der Schmerz, und wilder, wilder wurde das Lied,
denn sie sang nun von der Liebe, die der Tod verklärt,
von der Liebe, die auch im Grabe nicht stirbt.
Und die wundervolle Rose färbte sich rot wie die Rose des östlichen Himmels.
Rot war der Gürtel ihrer Blätter, und rot wie ein Rubin war ihr Herz.

Aber die Stimme der Nachtigall wurde schwächer,
und ihre kleinen Flügel begannen zu flattern,
und ein leichter Schleier kam über ihre Augen.
Schwächer und schwächer wurde ihr Lied,
und sie fühlte etwas in der Kehle.
Dann schluchzte sie noch einmal auf in letzten Tönen.

Der weiße Mond hörte es, und er vergaß unterzugehen
und verweilte am Himmel.
Die rote Rose hörte es und zitterte ganz vor Wonne
und öffnete ihre Blätter dem kühlen Morgenwind.
Das Echo trug es in seine Purpurhöhle in den Bergen
und weckte die schlafenden Schäfer aus ihren Träumen.
Es schwebte über das Schilf am Fluss, und der trug die Botschaft dem Meere zu.

"Sieh, sieh", rief der Rosenstrauch, "nun ist die Rose fertig";
aber die Nachtigall gab keine Antwort, denn sie lag tot im hohen Gras,
mit dem Dorn im Herzen.

Um Mittag öffnete der Student sein Fenster und schaute hinaus.
"Welch ein seltsames Glück“, rief er, "da ist ja eine rote Rose.
Ich habe in meinem ganzen Leben keine ähnliche Rose gesehen.
Sie ist so schön, dass sie sicher einen langen lateinischen Namen hat."
Und er lehnte sich zum Fenster hinaus und pflückte sie.
Dann setzte er sich einen Hut auf und rannte hinüber
zum Hause des Professors, mit der Rose in der Hand.

Des Professors Töchterlein saß im Torweg und
wand blaue Seide auf eine Haspel und ihr kleiner Hund lag zu ihren Füßen.
"Sie sagten mir, dass sie mit mir tanzen würden,
wenn ich Ihnen eine rote Rose brächte“, sagte der Student.
"Hier ist die schönste rote Rose der ganzen Welt.
Sie werden sie heute Nacht an ihrem Herzen tragen
und wenn wir zusammen tanzen,
wird sie Ihnen sagen, wie sehr ich Sie liebe."

Aber das junge Mädchen runzelte die Stirne.
"Ich glaube nicht, dass die Rose zu meiner Toilette passen wird“,
antwortete sie.
"Und überdies hat mir der Neffe des Kammerherrn
einige echte Juwelen geschickt
und jedermann weis, dass Juwelen mehr kosten als Blumen."

"Sie sind wirklich höchst undankbar“, sagte der Student ärgerlich
und er warf die Rose auf die Straße, wo sie in die Gosse fiel,
und ein Karrenrad fuhr darüber hinweg.

"Undankbar?" sagte das Mädchen. "Sie gebrauchen starke Ausdrücke,
mein Herr. Und überdies, wer sind Sie eigentlich?
Nur ein Student. Ich glaube nicht einmal, dass Sie silberne Schnallen an Ihren Schuhen haben wie der Neffe des Kammerherrn."
Und sie stand von ihrem Stuhle auf und ging ins Haus.

"Liebe ist doch ein dummes Ding“, sage der Student, als er heimging.
"Sie ist nicht halb soviel nütze als Logik,
denn sie beweist nichts und erzählt einem immer Geschichten von Dingen,
die doch nicht eintreffen, und macht einen an Dinge glauben,
die doch nicht wahr sind.
Alles in allem ist sie sehr unpraktisch
und heutzutage heißt praktisch sein alles.
ich kehre zur Philosophie zurück und werde Metaphysik studieren."

So ging er denn auf sein Zimmer und suchte ein dickes und staubiges Buch hervor und begann zu lesen.

Monday, January 09, 2006

Drei Rosen auf einem Stiel



Auf einem abgelegenen Hof, nahe bei einem großen Tannenwalde, lebte einmal ein Bauer, dem seine Frau schon vor Jahren gestorben war. Zum Glück hatte er aber zwei erwachsene Töchter, die eine blond und die andere schwarz; die führten ihm nun den Haushalt, versahen den Stall und das Hühnervolk und halfen auch draußen auf dem Felde mit, so gut sie konnten. Meist richteten sie es aber so ein, dass die eine dem Vater bei den bäuerlichen Arbeiten half, während die andere zu Hause blieb und dort nach dem Rechten sah. Denn es war nun einmal so, und niemand wusste eigentlich zu sagen warum, dass die zwei Schwestern sich nicht vertrugen, sondern sich wegen jeder Kleinigkeit zankten oder tagelang, ohne sich ein Wort zu gönnen, aneinander vorübergingen. Dem Vater aber waren beide gleich lieb; er bemühte sich redlich, keine der andern gegenüber zu bevorzugen, und erfreute sie häufig durch Geschenke, die sie sich immer selber wählen durften. Als er darum eines Tages wieder einmal auf den Markt ging, rief er sie zu sich in die Stube und fragte: "Ihr wisst ja, heut ist Markt im Dorf drunten; was soll ich euch mitbringen?" "Ich möchte ein schönes Sonntagskleid haben", sagte die eine. "Und ich wünsche mir drei Rosen auf einem Stiel", entgegnete die andere. "Drei Rosen auf einem Stiel? . . . Wenn ich die nur bekommen kann", sagte der Vater und machte sich auf den Weg.

Als er seinen Handel abgeschlossen und im Wirtshaus zu Mittag gegessen hatte, kaufte er der einen Tochter ein schönes neues Kleid; obgleich er aber den ganzen Markt zweimal auf und ab ging und sich auch auf dem Heimweg lange und angestrengt umsah, konnte er doch nirgends drei Rosen erblicken, die auf einem Stiele wuchsen. Endlich, als er schon ein gutes Stück vor dem Dorf draußen war, sah er in einem Garten einen blühenden Rosenstrauch stehen. Er betrachtete ihn näher, und wahrhaftig - an ihm wuchsen drei Rosen auf einem Stiel beisammen, so wie die zweite Tochter es sich gewünscht hatte. Ohne sich lange zu besinnen, trat er in den Garten ein, fasste das Zweiglein mit den drei Rosen und wollte es gerade abbrechen. Da stand mit einem Male ein braunzottiger Bär vor ihm und sagte: "Was suchst du da in meinem Garten?" Als er sich von seinem Schrecken erholt hatte, erzählte der Bauer, dass seine eine Tochter gewünscht habe, er solle ihr drei Rosen auf einem Stiel als Marktgeschenk mitbringen. Lange habe er vergeblich gesucht; hier an diesem Strauch habe er endlich einen solch wundersamen Zweig gefunden. Ob er ihn nicht brechen und mit nach Hause nehmen dürfe. "Du kannst die drei Rosen mitnehmen", sagte der Bär; "doch nur unter der Bedingung, dass du morgen um dieselbe Stunde wieder hieherkommst und deine Tochter mitbringst. Es soll ihr Schaden nicht sein. Tust du aber nicht, was ich dir geboten, so musst du sterben!" Der Bauer versprach wiederzukommen, bedankte sich für die drei Rosen und machte sich auf den Heimweg.

Als er auf dem Hofe ankam, warteten seine Töchter schon auf ihn. Die Schwarzhaarige begrüßte ihn am Brunnen, wo sie gerade Wasser für das Vieh schöpfte; die Blonde trat ihm freudig aus der Küche entgegen. Als sie das Zweiglein mit den drei Rosen in des Vaters Hand sah, strahlten ihre, Augen vor Glück; sie bewunderte es lange und stellte es dann sorgsam in ein Glas ans Fenster. Die Schwarzhaarige aber, die ihr Kleid gleich einmal zur Probe angelegt hatte, lächelte nur verächtlich, als sie die drei Rosen sah, und wie sie erst vernahm, dass die Schwester morgen den wilden Bären besuchen sollte, meinte sie: "Du wirst deine drei Rosen teuer bezahlen müssen und nicht wieder zurückkehren!" Die Blonde aber sagte: "Was der Vater dem Bären versprochen hat, das will ich halten."

Am andern Tag begab sich der Bauer mit seiner Tochter zu dem Garten des Bären. Als sie eintraten, kam auch schon der Bär angetrottet und fragte: "Ist das die Tochter, die sich die drei Rosen gewünscht hat?" - "Ja", erwiderte der Vater. "Lass sie bis zum Sonnenuntergang bei mir", sprach der Bär. "Es soll ihr kein Leid geschehen und wird sie nicht gereuen." Dem Bauern fiel es schwer, die Tochter so mutterseelenallein bei dem wilden Tier zu lassen, und er dachte den ganzen Tag über voll Sorge an sie. Doch er hätte sich nicht mit solchen Gedanken zu quälen brauchen. Denn als der Bär mit dem Mädchen allein war, nahm er es behutsam bei der Hand und führte es in ein herrliches Lustschloss, das zwischen Bäumen und blühenden Sträuchern versteckt mitten in dem Garten lag. Er zeigte ihm alle die prunkvollen bemalten Räume und auch die Schmuckschränke, in denen es nur so gleißte und funkelte von Gold, Silber, Perlen und Edelsteinen. So etwas hatte die einfache Bauerntochter noch nie gesehen, und sie konnte ihre Augen fast nicht mehr abwenden von all den Herrlichkeiten. "Wähle für dich aus, was dir am besten gefällt", sprach der Bär. "Ich will es dir schenken, wenn du morgen noch einmal allein zu mir in den Garten kommst." Das Mädchen versprach es, suchte sich eine Halskette und einen Ring aus und kehrte am Abend vergnügt nach Hause zurück.

Als die Schwarzhaarige den kostbaren Schmuck sah, wurde sie blass vor Neid. Und weil sie vermutete, dass die Schwester beim nächsten Besuche womöglich noch reicher beschenkt werden könnte, suchte sie ihr wiederum Furcht vor dem Bären einzureden und sie so weit zu bringen, ihr Versprechen nicht einzuhalten und lieber daheim zu bleiben. Aber all ihr Zureden und Einflüstern war umsonst. Da stand sie in der Nacht heimlich auf, raffte die Kleider und Schuhe der Schwester zusammen und versteckte sie in der Scheune unter dem Heu. Wohl eine Stunde lang suchte die Blonde am andern Morgen nach ihren Kleidern und ahnte bald, dass die neidische Schwester ihre Hände im Spiel hatte. Doch sie ließ sich in ihrem Entschluss, dem Bären ihr Wort zu halten, nicht beirren, zog ihre alte zerwaschene und geflickte Küchenschürze an und ging barfuss vom Hofe.

Weil sie sich aber beim Suchen zu lange aufgehalten hatte, kam sie verspätet im Garten an. Da stand der Rosenstrauch mit traurig leblosen Zweigen, und die Rosen hingen blass und halb verwelkt zwischen den Blättern. "Es ist auch so totenstill überall", dachte sie und rief mit banger Stimme nach dem Bären. Niemand gab Antwort. Weinend irrte sie von einem Ende des Gartens zum andern und lockte und rief: "Komm, komm mein Bär! Wo bist du denn, mein liebes Tier?" Da hörte sie endlich aus dem Rosenstrauch hervor etwas wimmern und winseln, lief drauf zu und sah den Bären wie tot auf dem Moose liegen. Als sie aber mit ihren Händen die Zweige und Blüten berührte, um dem Tier den Weg freizumachen, richteten sich die welken Ranken und Blätter wieder auf, die Rosen dufteten und leuchteten, und der Bär schlug die Augen auf, kroch aus dem Dickicht hervor, streifte daran seinen zottigen Pelz ab und stand als ein schöner, junger Prinz vor dem Mädchen. "Nun bin ich unglücklicher, verwunschener Königssohn endlich befreit!" sprach er. "Deiner Liebe und Treue, liebes Mädchen, habe ich mein neues Leben zu danken, und darum will ich dich zu meiner Frau und Königin machen!" Unter dem Rosenstrauch gab er ihr den Verlobungskuss, und bald darauf hielten sie Hochzeit und lebten glücklich miteinander bis an ihr Ende.