Wednesday, February 27, 2013

Der sprechende Baum

uralte Pyramidenpappeln


Es war einmal ein Jäger, der ging in den Wald. Er verirrte sich und gelangte an einen mächtigen See. Aus dem See kam ein großer Drache, der sprach zu dem Manne: »Erschieß mich nicht!« Da schrie der Mann: »Warum soll ich dich nicht erschießen, du frisst mich ja auf!« - »Das tu ich nicht, lass mich zu dir. Sieh, hinter mir her kommt ein anderer Drache, der will mich fressen; den schieß und ziel nach dem weißen Fleck auf seiner Brust!« Da kam der andre Drache mit Gebraus. Der Jäger schoss nach dem weißen Fleck, und der Drache starb. Da ging der erste Drache hin und fraß ihn auf. Dann bat er den Mann, sich auf seinen Rücken zu setzen, aber der getraute sich nicht. »Setz dich, setz dich, ich bringe dich fort!« Nun - da tat er es. »Es sind nur fünf Werst bis zum Dorf«, sagte der Drache, »lass mich dir in den Mund blasen.« Der Mann erschrak, warf sich auf die Knie und weinte, aber der Drache sprach: »Du brauchst nicht zu weinen, ich will dich sehr klug machen.« Da ließ es der Mann geschehen, und er wurde sehr klug.
Er ging nach Hause und sagte zu seinen Brüdern: »Schirrt die Pferde an, wir wollen eine goldene Schale aus dem Wald holen.« Sie gingen in den Wald, gingen einen halben Tag, und die Brüder fragten: »Warum hast du, dummer Kerl, uns hierhergelockt?« Da rauschte ein großer Baum: »Hier unter meinen Wurzeln liegt die goldene Schale.« Sie gruben die goldene Schale heraus, zogen sie nach Hause, und als sie den Deckel öffneten, war sie voll von unzähligen Goldstücken.
Danach gingen die Brüder wieder in den Wald und fällten den Baum. Und der Baum sprach: »Nehmt mich als Türpfosten.« Das taten sie auch. Da mehrten sich Pferde und Kühe auf dem Gehöft, und das Brot im Speicher wurde nicht mehr alle.


Finnland: August von Löwis of Menar: Finnische und estnische Märchen, 1995

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