Tuesday, April 09, 2013

Der pfiffige Hans



7.4.13
Vor vielen, vielen Jahren lebte einmal ein Mann, der einen Sohn hatte. Als derselbe größer ward, musste er sich bei fremden Leuten als Hirt verdingen. Eine geraume Zeit hatte er sich und seinen Vater ernährt, als er plötzlich Lust zum Wandern bekam. Nichts konnte Hansen mehr abhalten; nur draußen meinte er, könne er sein Glück machen. Er machte sich daher auf die Strümpfe und wanderte in eine große Stadt. Als er in eines der ersten großen Gasthäuser eintrat, hörte er, dass der König seine Tochter vermählen wolle und dass sich ein jeder als Bewerber melden könne. Hans dachte, versuchen kostet ja nichts, und ließ sich anmelden. Des andern Tages begaben sich alle Freier auf eine große Wiese; dort warf die Königstochter so viele Erdäpfel, als Bewerber waren, in die Luft. Derjenige, welcher nichts auffing, musste abziehen; wer aber einen erwischte, der sollte drei von der Königstochter gegebene Aufgaben lösen. Keinem war dies gelungen, und sie mussten mit stumpfer Nase abziehen. Nun erst kam Hans, wegen seiner niederen Herkunft der letzte, an die Reihe.
Die erste Aufgabe, welche keiner gelöst hatte, war die, dass Hans einige hundert Hasen hüten sollte, und am Abend musste er sie wieder vollzählig zurückbringen.
Hans ging den Tag über ganz betrübt im Walde herum, denn er hatte alle Hoffnung auf das Gelingen aufgegeben, als plötzlich, wie aus der Erde hervorgewachsen, ein altes, runzlichtes Weib vor ihm stand. Ganz erschrocken wollte er fortlaufen; allein das Weib hielt ihn fest und fragte ihn freundlich, warum er so betrübt sei. Hans meinte, es könnte ihm niemand helfen; doch sagte er ihr den Grund, um ihre Zudringlichkeit los zu werden, und wollte soeben weitergehen, als sie ihn zurückrief und ihm eine kleine Pfeife zuwarf. Hans konnte sich nicht denken, zu was diese Pfeife dienen sollte; indes steckte er sie ein und ging, da es schon Abend war, nach Hause zurück. In aller Frühe lenkte er seine Schritte zum Schloss. Bald ward es daselbst lebendig, und die Königstochter befahl, die Hasen aus dem Stalle zu lassen; aber als der letzte draußen war, konnte man von keinem eine Spur mehr entdecken. Hans lief nach und kam auf eine Wiese, die mitten im Walde lag, suchte seine Pfeife hervor und pfiff, dass der Wald vom Echo ertönte. Im Nu waren alle Hasen wieder da. Das war ihm eine gemähte Wiese. Die Königstochter, welche den Schäfer nicht zu ihrem Gemahl haben wollte, suchte durch List ihm einen Hasen zu entlocken. Sie verkleidete sich als Bauermädchen, nahm einen Korb an den Arm und ging so zum Hans in den Wald. Hans erkannte sie sogleich, ließ aber nichts merken, sondern wartete, bis sie zu ihm herangekommen war. Sie fragte ihn, ob er keine Hasen feil habe. Er antwortete mit einem kurzen Nein. »Aber auf welche Art kann ich mir wenigsten einen verdienen?« fragte sie. – »Wenn du freundlich und herzlich mit mir bist«, entgegnete er. Nach einigem Zögern gab ihm die Königstochter einen Kuss, und sie erhielt den verlangten Hasen. Freudig entfernte sie sich; kaum war sie aber eine Strecke gegangen, als Hans aus Leibeskräften zu pfeifen anfing. Hurtig sprang der Hase aus dem Korbe, und in einem Augenblick war er wieder bei der Herde. Die Königstochter hatte nichts davon gemerkt und entdeckte erst zu Hause ihren Verlust.
Nun beschloss der König selbst hinzugehen, um Hansen einen Hasen auf irgendeine Weise abzulocken. Er verkleidete sich und machte sich als Jude mit einem Esel und zwei Tragkörben auf den Weg zur Waldwiese. Hans erkannte ihn sogleich, ließ aber nichts merken und pfiff ruhig ein angefangenes Stückchen weiter. »Hast du einen Hasen zu verschachern?« fragte der König. – »Wenn du mir etwas zu Gefallen tust, sollst du einen umsonst haben«, sagte Hans. Der verkleidete König machte dabei ein ganz verklärtes Gesicht und fragte: »Nun, was kann ich dir tun?« Hans sagte: »Gib dem Esel, den du bei dir hast, einen Kuss unter den Schweif.« Anfangs sträubte sich der Jude gar sehr, allein zuletzt ließ er sich dazu bewegen und tat, was Hans verlangt hatte. Er bekam nun seinen Hasen, welchen er in einen der Körbe steckte und dann seines Wegs weiter zog. Als er ein wenig entfernt war, ließ Hans seinen Lockruf ertönen, und sogleich war die Herde wieder vollzählig.
Abends trieb Hans seine Herde ins Schloss zurück, und niemand konnte ihm die Lösung der ersten Aufgabe, welche die schwerste war, abstreiten. Nun kam aber die zweite. Er sollte nämlich mehrere Metzen Erbsen und Fisolen in einer stockfinstern Kammer voneinander sondern. Er ging hin, tat einen Pfiff, und sogleich waren einige hundert Ameisen da, welche zu kroseln und zu schaffen anfingen. Nach einiger Zeit lagen Erbsen und Fisolen gesondert in Haufen. Das war für den König ein Verdruss, und er stellte nun eine dritte Aufgabe. Hans sollte nämlich viele hundert Eier vom Grund eines tiefen Sees, und zwar zur Nachtzeit holen. Er begab sich zum See und pfiff, und sogleich waren eine Menge Fische da, welche schon vor Tagesanbruch die Eier herausgeholt hatten. Jetzt hatte er gewonnen Spiel, und da er ein hübscher Bursche war, so willigte endlich die Königstochter ein und heiratete ihn. Hans nahm seinen alten Vater zu sich, ward später König und lebte glücklich und zufrieden.
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896

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